«Es gibt immer noch Optimierungspotenzial»
Unsere Gesprächspartnerin:
PD Dr. Dr. med. Muriel Danièle Elhai
Klinik für Rheumatologie
Universitätsspital Zürich
Das Interview führte
Dr. med. Felicitas Witte
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Autoimmunkrankheiten treten häufiger bei Frauen auf, bisher war aber nicht klar, warum. Forscher von der Universität Stanford haben eine Erklärung gefunden: Es könnte mit Autoantikörpern gegen Xist-Ribonukleoproteinkomplexen zusammenhängen, die sozusagen die «Verpackung» des abgeschalteten X-Chromosoms sind.1 Warum sie die Ergebnisse für bedeutsam hält und woran es bei der Versorgung von Frauen mit Autoimmunkrankheiten hapert, erklärt PD Dr. Dr. med. Elhai aus Zürich.
Haben die Ergebnisse Sie überrascht?
M. D. Elhai: Nein. Dass das X-Chromosom eine Rolle dabei spielt, dass Frauen an Autoimmunkrankheiten eher erkranken, wird schon lange vermutet. Dieses Paper zeigt die Rolle der Xist-Ribonukleoprotein(RNP)-Komplexe bei der weiblichen Prädominanz von Autoimmunerkrankungen, insbesondere des systemischen Lupus erythematodes. Auch andere Studien legen eine Rolle des Genes Xist bei Autoimmunerkrankungen und Lupus nahe.2,3 Die Ergebnisse sind für die wissenschaftliche Gemeinschaft von grosser Bedeutung. Dass Xist, das normalerweise nur auf dem inaktiven X-Chromosom in weiblichen Zellen exprimiert wird, durch die Bildung von RNP-Komplexen Autoimmunreaktionen fördern kann, eröffnet neue Wege für das Verständnis und möglicherweise die Behandlung von Autoimmunkrankheiten.
Ist Xist nun die definitive Erklärung dafür, dass Frauen häufiger erkranken?
M. D. Elhai: Xist kann dazu beitragen, ist aber vermutlich nicht der einzige Mechanismus. Denn in der Studie wurde eine Autoimmunkrankheit nur bei männlichen Mäusen mit einer Veranlagung für Autoimmunität induziert (SJL/J-Mäuse), nicht aber bei C57BL/6J-Mäusen. Das deutet darauf hin, dass Xist nicht ausreicht, um die Autoimmunität in diesem Versuchsmodell zu stimulieren, und dass zusätzlich vermutlich noch Umweltfaktoren erforderlich sind, beispielsweise Tabak, organische Lösungsmittel etc. Darüber hinaus könnten auch Hormone involviert sein, insbesondere Östrogen, da sie das Immunsystem modulieren und das Auftreten bestimmter Autoimmunkrankheiten in den Wechseljahren erklären könnten.
Die Erkenntnisse beruhen im Wesentlichen auf Tierversuchen. Lassen sie sich auf Menschen übertragen?
M. D. Elhai: Mit der Extrapolation von Tierstudien auf den Menschen muss man immer vorsichtig sein. Mäuse und Menschen unterscheiden sich beispielsweise erheblich in Bezug auf Immunsysteme und Gene. Ausserdem lässt sich mit Mausmodellen nur teilweise die Krankheit beim Menschen reproduzieren. So frage ich mich, was das für eine Hautschädigung in dem Lupusmausmodell war – das haben die Autoren nicht beschrieben. Auch wirken manche Medikamente, die in Mausmodellen funktionierten, beim Menschen nicht. Ergebnisse aus Tiermodellen sind wertvoll, müssen aber durch klinische und translationale Studien bestätigt werden.
Was halten Sie vom Studienaufbau?
M. D. Elhai: Die Studie hat mehrere Stärken: Die Autoren haben transgene Mausmodelle verwendet, die eine induzierbare Expression von Xist ermöglichen. Das ist eine starke Methode zur Untersuchung der spezifischen Rolle dieses Gens bei der Pathogenese von Autoimmunerkrankungen. Eine weitere Stärke ist die Analyse von Humandaten, indem gezeigt wird, dass Seren von Patienten mit Autoimmunerkrankungen signifikante Autoantikörper gegen multiple Komponenten des Xist-RNP aufweisen. Jedoch hat die Studie auch einige Limitierungen. Da ist zunächst die Verwendung von Mausmodellen. Darüber hinaus bieten transgene Modelle zwar wertvolle Einblicke, können aber die natürliche Genexpression und die Komplexität des Krankheitsbilds nicht vollständig nachahmen. Insbesondere könnte die induzierbare Expression von Xist Artefakte erzeugen, die in normalen biologischen Kontexten nicht vorkommen. Die Studie zeigt, dass Xist-RNP-Komplexe Autoantigene tragen können, die bei Autoimmunerkrankungen eine Rolle spielen. Dies suggeriert, dass alle mit Frauen assoziierten Autoimmunkrankheiten durch die Produktion von Autoantikörpern gegen Xist-RNP verursacht werden, unabhängig von der Art der Krankheit. Autoimmunkrankheiten sind jedoch durch spezifische Antikörper charakterisiert. Daher kann dies nicht erklären, wie eine anfängliche Antikörperreaktion gegen Xist-RNP die Produktion von Antikörpern gegen CCP bei rheumatoider Arthritis (RA) oder gegen Anti-Topoisomerase 1 bei systemischer Sklerose auslöst. Darüber hinaus ist mittlerweile gut belegt, dass Autoantikörper bereits vor der Diagnose vorhanden sind und dass einige Patienten trotz Autoantikörpern keine Krankheit entwickeln, was auf das Eingreifen anderer Faktoren hindeutet, etwa Umweltfaktoren oder Hormone. Deren Rolle wurde in dieser Studie nicht erfasst und geklärt. Ausserdem erklären diese Mechanismen nicht die Entwicklung von Autoimmunkrankheiten bei Männern.
Halten Sie die Erklärung, wie die Autoantikörper entstehen, für plausibel?
M. D. Elhai: Ja. Mehrere Mechanismen können in Betracht gezogen werden:
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Immunogene Komplexe: Xist bildet RNP-Komplexe, die verschiedene Proteinantigene enthalten können. Diese Komplexe können potenziell vom Immunsystem als fremd oder bedrohlich erkannt werden, vor allem, wenn sie in einem ungewöhnlichen Kontext präsentiert werden.
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Expression auf dem inaktiven X-Chromosom: Xist wird nur auf dem inaktiven X-Chromosom exprimiert, das normalerweise nicht zur Genexpression beiträgt. Das Vorhandensein von Xist und den mit ihm assoziierten Proteinen könnte als körperfremd erkannt werden, insbesondere unter Bedingungen, die zu einer Störung der normalen Zellhomöostase führen, etwa bei Stress oder Zellschäden.
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Aktivierung des Toll-like-Rezeptors (TLR): Xist-RNA könnte als Ligand für TLR7 fungieren. Diese Interaktion kann zur Produktion von Typ-I-Interferonen und anderen entzündlichen Zytokinen führen, die das Immunsystem aktivieren und die Produktion von Autoantikörpern fördern.
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Aktivierung von B-Zellen: Die Bindung von Xist-RNP an Immunzellen, etwa dendritische Zellen, könnte die Aktivierung von B-Zellen fördern, die dann spezifische Autoantikörper gegen Xist-RNP produzieren.
Jedoch beweist die Tatsache, dass Autoantikörper gegen Xist-RNP bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen gefunden wurden, nicht unbedingt eine pathogene Rolle von Xist bei der Autoimmunität. Es könnte auch sein, dass sowohl die Expression von Xist als auch die Bildung von Autoantikörpern Symptome einer zugrundeliegenden Fehlregulation des Immunsystems sind.
Können die Erkenntnisse für die Therapie genutzt werden?
M. D. Elhai: Die Forschungsergebnisse zu Xist-RNP haben das Potenzial, langfristig sowohl für die Behandlung als auch für die Prävention von Autoimmunerkrankungen eingesetzt zu werden. Bevor jedoch therapeutische oder präventive Massnahmen in Betracht gezogen werden können, sind Bestätigungen in weiteren Studien, insbesondere mit Menschen, erforderlich. Die therapeutischen Anwendungen sind vielfältig. Diese Arbeit könnte womöglich zur Entwicklung neuer Therapien führen, die die Interaktion von Xist-RNP mit dem Immunsystem blockieren oder modulieren. Fortschritte bei CRISPR/Cas9 und anderen Gen-Editing-Technologien könnten es auch ermöglichen, die Expression von Xist spezifisch zu regulieren, um seine Auswirkungen auf die Autoimmunität, insbesondere bei Hochrisikopatienten, zu minimieren. Bezüglich Prävention könnte diese Arbeit zur Entwicklung von Tests führen – etwa für spezifische Autoantikörper gegen Xist-RNP. Dies würde eine frühzeitige Diagnose von Autoimmunerkrankungen ermöglichen.
Sie forschen auch selbst über Geschlechtsunterschiede bei Autoimmunkrankheiten. Was haben Sie herausgefunden?
M. D. Elhai: In meiner bisherigen Forschung konnte ich zeigen, dass sich Phänotyp und Prognose bei RA und systemischer Sklerose zwischen Männern und Frauen unterscheiden, was einen individuellen, personalisierten Ansatz erfordert. Derzeit entwickeln wir am Unispital ein grosses Projekt, mit dem wir den Einfluss von Geschlecht, Hormonspiegel und Gender auf die klinische Präsentation, die Prognose und die Lebensqualität bei RA und systemischer Sklerose evaluieren wollen. Im Rahmen dieses Projekts interessiere ich mich insbesondere dafür, welchen Einfluss Sexualhormone und der Menstruationszyklus auf Krankheitsaktivität, Immunantwort und Schmerzen bei diesen beiden Krankheiten haben. Damit werden wir verstehen, wie der Menstruationszyklus die Krankheitsaktivität, die Entzündung und das Immunsystem bei RA und systemischer Sklerose verändert.
Sind Frauen mit Autoimmunkrankheiten gut versorgt?
M. D. Elhai: Die Betreuung hat sich in den letzten Jahrzehnten verbessert, aber es gibt immer noch Optimierungspotenzial. So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass es bei einigen Autoimmunerkrankungen bei Frauen zu einer verzögerten Diagnose kommt, insbesondere wenn die Krankheit weniger schwer verläuft.4 Obwohl die Forschung Fortschritte gemacht hat, gibt es noch keine Richtlinien für eine geschlechtsspezifische Behandlung von Autoimmunerkrankungen. Daher ist es wichtig, die Forschung in diesem Bereich zu fördern und insbesondere den Einfluss von Geschlecht und Gender zu untersuchen. Auch die Rolle der Sexualhormone sollte weiter erforscht werden. Darüber hinaus muss der Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessert werden, damit alle Frauen unabhängig von ihrem Wohnort oder ihrem sozioökonomischen Status Zugang zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung und zu spezialisierten Behandlungszentren haben. Es ist wichtig, die Aufklärung und das Bewusstsein für Autoimmunerkrankungen in der Allgemeinbevölkerung zu stärken. Dies würde auch dazu beitragen, die Vorurteile zu bekämpfen, die manchmal mit diesen Krankheiten verbunden sind.
Haben Sie im Unispital unterschiedliche Behandlungsstrategien für Männer und Frauen?
M. D. Elhai: Ja, wir passen die Behandlung an den gesamten Phänotyp der Krankheit an, einschliesslich des Geschlechts, aber auch anderer Parameter wie Antikörpern oder Entzündungsaktivität. Behandlung und Nachsorge richten sich also unter anderem nach dem Geschlecht. Die Behandlung von Frauen mit Autoimmunerkrankungen ändert sich während der Schwangerschaft oder der Menopause, wenn sich die Ausprägung der Krankheit verändern könnte. Schliesslich deuten Studien darauf hin, dass die Verträglichkeit bestimmter Medikamente je nach Geschlecht unterschiedlich sein kann. Obwohl es derzeit keine genauen Empfehlungen für eine geschlechtsspezifische Therapie bei Autoimmunerkrankungen gibt, berücksichtigen wir diese Daten, um die Betreuung der Patienten anzupassen.
Literatur:
1 Dou DR et al.: Cell 2024; 187(3): 733-49 2 Huret C et al.: Sci Adv 2024; 10(18): eadn6537 3 Crawford JD et al.: JCI Insight 2023; 8(20): e169344 4 Hughes M et al.: Autoimmun Rev 2020; 19(4): 102494
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