Morbus Menière: Klinik, Pathophysiologie und neue klinische Guidelines
Autorin:
Dr. Katharina Meng
Schwindelambulanz Klinik Favoriten
Ordination 1170 Wien
E-Mail: ordination@hno-meng.at
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Obwohl bereits seit 160 Jahren klinisch bekannt, gibt der Morbus Menière bis heute viele Rätsel auf: Trotz einer Vielzahl bestehender Hypothesen sind Ätiologie und Pathogenese bis heute nicht zufriedenstellend geklärt. Fakt ist jedoch, dass die Prävalenz relativ hoch ist, weswegen es sich in jedem Fall lohnt, diese Erkrankung des Innenohrs genau zu betrachten. Die Erforschung der möglichen pathophysiologischen Hintergründe hilft, den Betroffenen ein Stück Lebensqualität zurückzugeben.
Keypoints
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Die Ursachen des Morbus Menière sind bis heuteungeklärt.
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Im Langzeitverlauf scheint sich die Krankheit zumeist abzuschwächen, dennoch erleiden die meisten Betroffenen einen nicht unerheblichen Gehörverlust.
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Der Hydrops scheint im Zusammenhang mit der Menière’schen Erkrankung zu stehen – er alleinereicht jedoch nicht fürdie Stellung einer Diagnose aus.
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Auch für den Hydrops gibt es unterschiedliche Hypothesen der Pathogenese.
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Guidelines der Fachgesellschaften können als Wegweiser für Diagnostik und Therapie der klinischen Symptome dienen.
Als der französische Ohrenarzt Prosper Menière 1861 seine Krankheitstrias Schwindel, Tinnitus und Hörminderung in Paris publizierte, glaubte niemand, dass die Ursache dafür im Innenohr liegen könnte, vielmehr war man der Ansicht, die Schwindelattacken würden durch eine Art „Blutstau“ im Gehirn resultieren, welchem damals therapeutisch mit Aderlass begegnet wurde. Menière selbst starb 1862, er konnte den Pathomechanismus seiner Erkrankung nie erklären. In seinen Arbeiten fand man Hinweise auf eine lokale Blutung im Innenohr, eine Theorie, die sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts gehalten hat. Den zugrundeliegenden Hydrops entdeckte Charles Hallpike erst 1938, die Theorie der Ruptur als Ursache der Attacken kam von Schuknecht 1976. Bis heute sind die genauen Hintergründe der Entstehung der Menière’schen Erkrankung nicht geklärt. Viele Hypothesen existieren, um den endolymphatischen Hydrops und als dessen Folge das klinische Erscheinungsbild des Morbus Menière zu erklären.
Klinik
Ein definitiver Morbus Menière ist nach den heute gültigen Kriterien der Bárány Society definiert durch zwei oder mehr Schwindelepisoden mit einer Dauer von 20 Minuten bis 12 Stunden, einer mit der Attacke assoziierten nachgewiesenen Hörminderung im mittleren oder tiefen Frequenzbereich sowie einem zusätzlichen fluktuierenden Ohrsymptom (z.B. Tinnitus oder Ohrdruck – auch „aural fullness“ genannt). Es erkranken etwas mehr Frauen als Männer, ein Häufigkeitsgipfel besteht zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr, wobei die Erkrankungswahrscheinlichkeit mit dem Alter zunimmt. Die in der Literatur angegebenen epidemiologischen Zahlen variieren sehr stark, es kann derzeit von einer Prävalenz von ca. 100–200 pro 100000 ausgegangen werden.
Der Verlauf der Menière’schen Erkrankung ist sehr variabel. Während manche mehrmals pro Monat an Anfällen leiden, berichten andere von wenigen Attacken im Jahr. Auch gibt es individuell Häufungen von Anfällen zu bestimmten Zeiten (aktive Phasen), die nach geraumer Zeit wieder abklingen.
Die Patienten leiden erfahrungsgemäß am meisten unter den Schwindelattacken, welche auch im Zentrum der therapeutischen Möglichkeiten stehen. Während der Attacke tritt meist ein horizontaler Ausfallsnystagmus (zur gesunden Seite) auf, welcher zu Beginn und am Ende des Geschehens im Sinne eines Reiz- und Erholungsnystagmus auch die Richtung wechseln kann.
Im Langzeitverlauf scheinen sich die Attackenhäufigkeit und deren Intensität oft abzuschwächen, das ist allerdings nicht generell der Fall. Von einem sogenannten „Ausbrennen“ sollte man demnach nicht sprechen. Daten aus Finnland zeigten, dass von ursprünglich 63% der Patienten mit einmal monatlichen Attacken nach 20 Jahren noch 1/3 unverändert an den Symptomen litt, andere gaben an, durch einen möglichen bilateralen Befall nach 14 Jahren sogar wieder mehr Schwindelattacken zu erleiden.1,2
Der Langzeithörverlust entwickelt sich bei Patienten mit Menière ebenfalls unterschiedlich, es lässt sich trotzdem sagen, dass in den ersten Jahren der Erkrankung die Progression durchschnittlich am stärksten verläuft, gefolgt von langsameren Hörverlusten danach. Auch ein akutes Abfallen ohne Remission ist möglich, genauso wie eine Fluktuation der Hörschwelle. Der durchschnittliche Hörverlust beträgt nach zehn Jahren ca. 50dB.3
Pathogenese
Zwei Aspekte, die bei der Erforschung der Menière’schen Erkrankung nicht voneinander zu trennen sind, stehen im Fokus der wissenschaftlichen Untersuchungen –die Ätiologie und die Pathogenese.
Bis heute gibt es verschiedenste Theorien zur Entstehung der Erkrankung, respektive des wahrscheinlich zugrundeliegenden endolymphatischen Hydrops, sowie zu den Mechanismen, die zum Ausbrechen der Symptome führen. Drei Fragen drängen sich auf:
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Woher kommt der Hydrops?
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Ist der Hydrops der Grund für Menière?
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Woher kommen die Symptome?
Im Folgenden wird auf diese Fragen näher eingegangen.
Woher kommt der Hydrops?
Der Hydrops ist definiert als Flüssigkeitszunahme im endolymphatischen Raum der Cochlea und/oder des Labyrinths, die zu einer Verlagerung der Reissner-Membran führt (Abb. 1).
Abb. 1: Schematische Darstellung des endolymphatischen Hydrops (Quelle: K. Meng)
Verschiedene Mechanismen werden für eine Entstehung des Hydrops verantwortlich gemacht (Abb. 2).4 Eine Obstruktion von Teilen des häutigen Labyrinths, zum Beispiel durch Verschluss oder Enge des Ductus utriculosaccularis mit Druckerhöhung im Saccus endolymphaticus oder durch sogenannte „free floating particles“ (FFP) in den Bogengängen, könnte in einer Absorptionsstörung der Endolymphe resultieren. Manche Autoren nehmen an, dass es einen Zusammenhang mit benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel und der Entstehung des Morbus Menière geben könnte.5
Abb. 2: Verschiedene Risikofaktoren führen zu einem Hydrops, ein Hydrops führt zu menièriformen Symptomen. Allerdings gibt es auch den asymptomatischen Hydrops beim Gesunden. Die klinische Menière-Trias kann ebenso ohne nachweislichen Hydrops (z.B. bei vestibulärer Migräne) auftreten (modifiziert nach Merchant SN et al. 2005)4
Als hormoneller Aspekt in der Ätiologie wird oftmals ein Zusammenhang mit Vasopressin, ADH und Aldosteron genannt. Dies wurde an Tiermodellen untersucht: Bei künstlich erzeugtem Hydrops führte die Gabe eines Vasopressin-Antagonisten zu einer deutlichen Reduktion des Hydrops, was den Umkehrschluss nahelegt, dass Vasopressin selbst potenziell zu einem solchen führen könnte. Auch osmotische Faktoren wie etwa ein gestörter Natriumhaushalt und Resorptionsprobleme werden als Risikofaktor genannt.6, 7
Interessant ist die Hypothese der Minderperfusion, welche eine Verbindung zur vestibulären Migräne darstellt. Durch Vasospasmen oder gestörte trigeminale Reizverarbeitung, so wie es bei Migräne bekannt ist, könnte es zu Schäden der Stria vascularis kommen, was wiederum das Risiko eines Hydrops erhöhen würde.8
Da die vestibuläre Migräne eine vom Menière’schen Symptomenkomplex oft nicht leicht zu differenzierende Erkrankung ist, kann von einem möglichen Zusammenhang ausgegangen werden.
In sehr wenigen Fällen (2–10%) wird eine genetische Disposition, dabei v.a. Abweichungen am Chromosom 12, vermutet. Zwillinge haben ein 10-fach höheres Risiko zu erkranken, falls ein Geschwisterkind betroffen ist.
Immer wieder rückt der Saccus endolymphaticus in den Fokus: Als möglicher Volumen- oder Drucksensor oder aber auch als immunologisch kompetente Struktur wird ihm in der Hydropsentstehung eine besondere Rolle zugeschrieben. Vor allem beim bilateralen Menière wird eine autoimmunologische Ursache diskutiert.9
Ist der Hydrops der Grund für Morbus Menière?
In histologischen Präparaten bei Patienten mit Menière wird in nahezu 100% auch ein Hydrops gefunden, radiologisch sind es immerhin um die 80%.Demnach ist ein kausaler Zusammenhang sehr wahrscheinlich. Allerdings muss festgehalten werden, dass bei rund 6% der gesunden Bevölkerung ein asymptomatischer Hydrops angenommen wird. Das heißt, dass ein Hydrops alleine es nicht zulässt, von einem Morbus Menière zu sprechen.
Woher kommen die Symptome?
Lange Zeit galt die Theorie von Schuknecht als Erklärung für Schwindel- und Hörsturzattacken.10 Eine Ruptur der Reissner-Membran führt zur Vermischung von Endo- und Perilymphe, was wiederum Schwindel und Hörverlust sowie sonstige akute Ohrsymptome erklären würde. Diese Theorie wird heute oftmals angezweifelt, da Risse auch beim Gesunden nachweisbar sind. Zudem wurde im Tiermodell künstliche Endolymphe bis zum Erreichen vestibulärer Symptome eingespritzt, eine Ruptur konnte man zu diesem Zeitpunkt nicht feststellen.11
Eine akute Durchblutungsproblematik in verschiedenen Gefäßen könnte zu unterschiedlichen Problemen führen, je nachdem,welche Arterie betroffen ist.Diese Theorie zur Symptomentwicklung deckt sich weitgehend mit der Theorie der Hydropsentstehung,allerdings geht man hier von einer akuten Problematik aus. Auch Druckschwankungenim Mittelohr werden als Verursacher von akuten Potenzialschwankungen im Innenohr diskutiert. Viele therapeutische Methoden (Paukendrain, Tenotomie) setzen hier an.
Eine akute Utriculusläsion wird immer wieder als Grund für die sogenannten „drop attacks“ genannt, bei denen die Patienten plötzlich im Rahmen einer kurz andauernden Schwindelattacke umfallen.12
Neue praktische Guidelines
Die AAO-HNS (American Academy of Otolaryngology-Head and Neck Surgery) publizierte 2020 einen Leitfaden zum besseren praktischen Vorgehen bei Patienten mit Morbus Menière.13 Dabei wurde der Fokus auf die klinische Relevanz der Diagnose gelegt und Therapieempfehlungen ausgesprochen.
Einige Empfehlungen sind dabei durchaus hervorzuheben:
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Es wird gleich zu Beginn die Differenzierung zwischen Menière und Migräne als wichtig beschrieben. Des Weiteren sind audiologische Kontrollen unbedingt durchzuführen, hingegen werden vestibuläre Tests nur bei Verfügbarkeit empfohlen, was durchaus kontrovers in der Verlaufsdiagnostik der Erkrankung zu diskutieren ist.
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Auch unterschiedlicher Meinung sind viele beim Statement zur operativen Therapie wie Sakkotomie: Diese wird explizit ausgeschlossen, da die positive Datenlage hierzu laut Autorenschaft im Vergleich zu Placebo nicht ausreicht.
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Eine gute Option als alternative Therapiemöglichkeit stellen heute die intratympanalen Injektionen mit Cortisonpräparaten dar, da sie einen günstigen Einfluss auf die Schwindelkontrolle haben können, Betahistin wird nicht eindeutig empfohlen.
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Gentamicin als ablatives Verfahren wird zur Therapie des Menières gelistet, wenn andere Maßnahmen nicht zielführend sind.
Abb. 3: Klinischer Leitfaden zur Diagnostik und Therapie bei Patienten mit Morbus Menière (modifiziert nach Basura et al. 2020)13
Insgesamt wurde ein Leitfaden erstellt, der in der Praxis durchaus hilfreich sein kann, um einen Gesamtüberblick zu bekommen. Im Einzelfall muss allerdings individuell entschieden werden, welchen Weg der Diagnostik und Behandlung man für den Patienten geht.
Fazit
Es gibt viele verschiedene Theorien zur Entstehung von Menière, aber auch zur Entwicklung der Symptome. Eine einzige, die alles erklärt, ist dabei (noch) nicht gefunden worden. Der Nachweis eines Hydrops alleine reicht nicht aus, um die Diagnose Morbus Menière zu stellen. Es gilt zusehends als wahrscheinlich, dass mehrere Ursachen das gleiche Endresultat erzeugen können. Eine Differenzierung zur vestibulären Migräne ist wichtig, da dies therapeutische Konsequenzen nach sich zieht. Es bedarf der Anwendung klinischer Kriterien, die neuen Guidelines können eine Art Wegweiser für Diagnostik und Therapie darstellen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass uns die Menière’sche Erkrankung immer noch vor viele Fragen stellt. Allerdings hilft uns ein detailreiches Wissen der vielen möglichen pathophysiologischen Vorgänge in derEntwicklung neuer Therapieansätze, die denPatienten durchaus Schwindelkontrolle und Lebensqualität zurückgeben können.
Literatur:
1 Havia M, Kentala E: Progression of symptoms of dizziness in Ménière’s disease. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 2004; 130(4): 431-5 2 Green JD et al.: Longitudinal followup of patients with Meniere’s disease. Otolaryngol Head Neck Surg 1991; 104 (6): 783-8 3 Friberg U et al.:The natural course of Menière’s disease. Acta Otolaryngol (Stockh) Suppl 1984; 406: 72-7 4 Merchant SN et al.: Pathophysiology of Meniere’s syndrome: Are symptoms caused by endolymphatic hydrops? Otol Neurotol 2005; 26(1): 74-81 5 Hornibrook J: Saccular otoconia as a cause of Ménière‘s disease: hypothesis based on two theories. J Laryngol Otol 2018; 132(9) :771-4 6 Eckard AH et al.: Inner ear pathologies impair sodium-regulated ion transport in Meniere’s disease. Acta Neuropathol 2019; 137: 343-57 7 Seo YJ, Brown D: Experimental Animal Models for Meniere‘s Disease: A Mini-Review. J Audiol Otol 2020; 24(2): 53-60 8 Cureoglu S et al.: Histopathology of Meniere’s disease. Oper Tech Otolayngol Head Neck Surg 2016; 27: 194-204 9 Yupeng L et al.: Current status on researches of Meniere’s disease: a review. Acta Oto-Laryngologica 2020; 140(10): 808-12 10 Schuknecht HF: The pathophysiology of Meniere’s disease. Am J Otol 1984; 5(6): 526-7 11 Brown DJ et al.: Changes in cochlear function during acute endolymphatic hydrops development in guinea pigs. Hear Res 2013; 296: 96-106 12 Calzada AP et al.: Otolithic membrane damage in patients with endolymphatic hydrops and drop attacks. Otol Neurotol 2012; 33(9): 1593-8 13 Basura GJ et al.: Clinical practical guideline: Ménière’s disease. Otolaryngol Head Neck Surg 2020; 162(25): 1-55
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