Digitale Verhaltenstherapie bei chronischem Tinnitus
Autor:
Dr. Uso Walter
Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten
Duisburg
E-Mail: HNOWalter@t-online.de
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Chronischer Tinnitus ist für die Betroffenen immer noch eine starke Belastung und führt häufig zu psychovegetativen Folgeerkrankungen. Da eine kausale Therapie nicht verfügbar ist und geeignete Therapieplätze fehlen, waren die meisten Tinnituspatienten bisher schlecht oder gar nicht versorgt. Das ändert sich nun mithilfe einer digitalen, App-basierten Verhaltenstherapie, wie eine aktuelle Studie eindrucksvoll zeigt.
Keypoints
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Chronischer Tinnitus führt häufig zu psychovegetativen Beschwerden, die wiederum den Tinnitus verstärken.
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Eine kognitive Verhaltenstherapie ist die einzige Behandlung bei chronischem Tinnitus mit 1a-Evidenz. Diese kann auch als digitale Therapie durchgeführt werden.
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Mithilfe der verhaltenstherapeutischen Tinnitus-App Kalmeda lässt sich die Tinnitusbelastung unabhängig von der Erkrankungsdauer signifikant senken.
Etwa 14% der Mitteleuropäer leiden unter Tinnitus.1 Sie nehmen dauerhaft Geräusche wahr, die andere nicht hören, wie Pfeifen, Rauschen, Brummen oder den eigenen Herzschlag. Bleiben die Geräusche länger als drei Monate bestehen, gelten sie als chronisch.
Wie die Belastung durch den Tinnitus empfunden wird, hängt dabei weniger von den Geräuschen selbst als von der unterbewussten Bewertung und der dadurch ausgelösten Reaktion im limbischen Nervensystem ab. So führt Tinnitus häufig zu Stress und emotionalen Belastungen, die wiederum den Tinnitus verstärken. Dieser Teufelskreis führt auf Dauer zu Komorbiditäten wie Ängsten, Depressionen oder Schlafstörungen, was die Lebensqualität auf Dauer erheblich beeinträchtigen kann. Diese Komorbiditäten sowie das Fehlen einer kausalen Therapiemöglichkeit machen die Behandlung eines chronischen Tinnitus zu einer echten Herausforderung.
Versorgungslücke bei chronischem Tinnitus
Aufgrund der starken Abhängigkeit der Tinnitusbelastung von der zentralen Hörverarbeitung im Zwischenhirn kommt es bei der Behandlung chronischer Ohrgeräusche vor allem darauf an, die vegetativen und emotionalen Reaktionen so zu beeinflussen, dass der Tinnitus auf unterbewusster Ebene nicht mehr als belastend wahrgenommen wird. Dies lässt sich aber nur mit psychologischen, insbesondere verhaltenstherapeutischen Methoden erreichen.
Entsprechend empfiehlt die S3-Leitlinie zur Therapie des chronischen Tinnitus von 2021 auch die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als einzige Behandlungsmethode mit einer 1a-Evidenz.2 Als ebenfalls wirksam werden noch die Hörverbesserung bei Schwerhörigkeit und physiotherapeutische Maßnahmen bei Verspannungen im Kiefergelenks- und HWS-Bereich empfohlen. Als nicht wirksam eingestuft werden dagegen akustische Therapieverfahren und Medikamente.
Gleichzeitig konstatieren die Leitlinien, dass die Verfügbarkeit einer KVT für Tinnituspatienten de factonicht gegeben ist, sodass die meisten Betroffenen schlecht oder gar nicht versorgt sind.
App-basierte Tinnitustherapie
Lösen lässt sich dieses Dilemma durch eine digitale KVT für Tinnituspatienten, wie eine aktuelle Studie eindrucksvoll zeigt.3 Die digitale Tinnitus-App Kalmeda wurde 2020 als erste digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) in Deutschland zugelassen (Abb. 1). Sie bietet eine App-basierte KVT im Sinne einer Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) für Patienten mit chronischem Tinnitus. Die Betroffenen durchlaufen dabei ein mehrmonatiges, interaktives Übungsprogramm, das sich in folgende 5 Level mit je 9 Etappen gliedert:
Aufmerksamkeitslenkung
Entspannung
Achtsamkeit
Akzeptanz
Selbstwirksamkeit
Die Patienten lernen im Laufe des Programms, innere Einstellungen, die zu einer Verstärkung der Ohrgeräusche führen, durch hilfreichere zu ersetzen, sodass der Tinnitus im Laufe der Zeit weniger belastend wird. Dazu setzen sie sich unter anderem individuelle Entspannungs-, Achtsamkeits- und Akzeptanzziele und entwickeln unter Anleitung Strategien zur Aufmerksamkeitslenkung und Stressreduktion. Begleitet wird das Programm von einer Auswahl ablenkender Hintergrundgeräusche, einem Wissensteil sowie geführter Meditationen.
Da für jede einzelne Etappe eine Mindestbearbeitungszeit hinterlegt ist, dauert die Therapie 9 bis 12 Monate.
Abb. 1: Die digitale Tinnitus-App Kalmeda wurde 2020 als erste digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) in Deutschland zugelassen
Studie belegt Wirksamkeit
Um den Versorgungsnutzen der App im Rahmen des Zulassungsverfahrens nachzuweisen, wurde eine randomisierte klinische Studie durchgeführt.3
Die klinische Studie untersuchte die Wirksamkeit der verhaltenstherapeutischen Tinnitus-App Kalmeda über einen Zeitraum von insgesamt neun Monaten. Dazu wurden 187 Patienten per Blockrandomisierung zu gleichen Teilen einer Interventionsgruppe, die sofort mit der Nutzung der App beginnen konnte, und einer Kontrollgruppe mit einem um 3 Monate verzögerten Behandlungsbeginn zugeordnet. Das Durchschnittsalter betrug 48,2 ±12,5 Jahre (Frauen: 47,4±12,1, Männer: 49,4 ±12,7), wobei 97 (51,9%) männliche und 90 (48,1%) weibliche Teilnehmer eingeschlossen wurden; die Dauer des Tinnitus betrug im Durchschnitt 6,57±6,93 Jahre für die gesamte Kohorte. Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der demografischen Faktoren oder den Ausgangswerten der untersuchten Parameter.
Als primärer Endpunkt wurde die Verringerung der Tinnitusbelastung entsprechend dem Tinnitus-Fragebogen von Hiller und Göbel (TQ) nach 3 Monaten definiert. Sekundäre Endpunkte betreffen die Depressionsneigung, das Stressempfinden sowie die Selbstwirksamkeit.
Bei der Auswertung zeigte sich eine statistisch signifikante und klinisch relevante Reduktion des TQ-Scores in der Interventionsgruppe (Abb. 2) im Vergleich zur Kontrollgruppe (10,04 Punkte, p<0,001, Cohen’s-d-Effektgröße =1,1).
Abb. 2: Verringerung der Tinnitusbelastung durch die App Kalmeda entsprechend dem Tinnitus-Fragebogen von Hiller und Göbel (TQ) nach 3 Monaten (modifiziert nach Walter U et al. 2023)3
Die sekundären Parameter Depressionsneigung und Stressbelastung verbesserten sich in der Interventionsgruppe ebenfalls signifikant, während die Kurzform des Selbstwirksamkeits-Optimismus-Pessimismus-Scores (SWOP-K9) in beiden Gruppen unverändert blieb. Diese Effekte waren unabhängig vom Alter, vom Geschlecht und auch von der Dauer des Tinnitus. Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet.
Vorzeitige Abbrüche nach 3-monatiger Nutzung der Tinnitus-App gab es bei 16/94 (17,1%) Patienten in der Interventionsgruppe und 8/93 (8,6%) Patienten in der Kontrollgruppe.
Zusammenfassung
Patienten mit chronischem Tinnitus sind nach wie vor häufig nicht ausreichend versorgt. Mit der verhaltenstherapeutischen Tinnitus-App Kalmeda steht nun seit Kurzem eine leitliniengerechte, jederzeit verfügbare Behandlung zur Verfügung, deren therapeutische Wirksamkeit in einer aktuellen Studie eindrucksvoll nachgewiesen werden konnte. Die Daten belegen eine signifikante und anhaltende Besserung der Tinnitusbelastung bei Nutzung der App.
Literatur:
1 Jarach CM et al.: Global prevalence and incidence of tinnitus: a systematic review and meta-analysis. JAMA Neurol 2022; 79(9): 888-900 2 S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus, Stand 09/2021. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/017-064 ; zuletzt augerufen am 4.6.2024 3 Walter U et al.: Randomized controlled trial of a smartphone-based cognitive behavioral therapy for chronic tinnitus. PLOS Digit Health 2023; 2(9): e0000337
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