
Erfolge beim Vorhofflimmern, weiterer Forschungsbedarf in anderen Bereichen
Unser Gesprächspartner:
Univ.-Prof. Dr. Helmut Pürerfellner
Kardiologische Abteilung des
Ordensklinikums Linz Elisabethinen
E-Mail: helmut.puererfellner@ordensklinikum.at
Das Interview führte Reno Barth
Schlaganfälle und plötzliche kardiale Todesfälle sind katastrophale Ereignisse, die in vielen Fällen ihre Ursachen in Herzrhythmusstörungen haben. Wo stehen wir heute im Management der Arrhythmien und sind die aktuellen Empfehlungen noch zeitgemäß? Wir fragten Univ.-Prof. Dr. Helmut Pürerfellner, Leiter der Rhythmologie und Elektrophysiologie im Ordensklinikum Linz Elisabethinen.
Herr Professor Pürerfellner, unser Thema ist Rhythmologie. Wie lange beschäftigen Sie sich schon damit?
H. Pürerfellner: Ich habe unmittelbar nach dem Studium, also 1987, in Wien bei Prof. Weber begonnen und mich von Beginn an mit dem Langzeit-EKG beschäftigt. Wenn man zurückrechnet, sind das jetzt schon 37 Jahre. Seit 1989 bin ich jetzt im Ordensklinikum Linz Elisabethinen und beschäftige mich mit der gesamten Kardiologie, aber im Speziellen mit der Rhythmologie.
Und wie war damals der Stand der Dinge? Was von dem, was man heute kann, konnte man damals nicht?
H. Pürerfellner: Das meiste von dem, was wir heute machen, konnte man damals nicht. Was geblieben ist und was mich immer noch begeistert, ist das ganz gewöhnliche 12-Kanal-Ableitungs-EKG. Das wurde jetzt vor mehr als 120 Jahren von Willem Einthoven in den Niederlanden entwickelt und ist immer noch eine der faszinierendsten Methoden, die ich in der Kardiologie kenne. Es gab in den 1980er-Jahren auch einige Methoden, die derzeit kaum mehr zur Anwendung kommen.
Zum Beispiel?
H. Pürerfellner: Zum Beispiel die Vektorkardiografie, das war eine Variante des EKG, die die vom Herzen generierten Potenzialdifferenzen nicht nur im zeitlichen, sondern auch im räumlichen Verlauf aufzeichnete. So konnten bildliche Darstellungen der Herzaktion generiert werden.
Und was waren die wesentlichen Neuerungen seit den 1980er-Jahren?
Abb. 1: Das 12-Kanal-Ableitungs-Oberflächen-EKG wurde vor mehr als 120 Jahren entwickelt und ist immer noch eine faszinierende Untersuchungsmethode
H. Pürerfellner: Da sind zunächst einmal die Medikamente zu nennen. Wir haben heute zahlreiche für die Kardiologie unverzichtbare Medikamentenklassen, die wir damals nicht hatten. Das sind zum Beispiel die vier Medikamentenklassen, die wir bei Herzinsuffizienz einsetzen, nämlich die Betablocker, die SGLT2-Inhibitoren, die Mineralokortikoid-Antagonisten und die RAAS-Blocker, also ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Rezeptorblocker oder ARNI – Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitoren. Dazu kommen die mittlerweile zahlreichen Lipidsenker, die orale Antikoagulation bei Vorhofflimmern sowie diverse interventionelle oder chirurgische Techniken zur Behandlung von Herzklappenerkrankungen. Aus Sicht der Rhythmologie ist hier vor allem die Katheterablation zu nennen. Es gab damals auch noch keine implantierbaren Defibrillatoren. Schrittmacher waren bereits im Einsatz, wir haben heute jedoch wesentlich physiologischere Systeme.
Gerade bei den Arrhythmien hat sich in der medikamentösen Therapie aber nicht viel getan …
H. Pürerfellner: Ja, das ist so ziemlich das einzige Feld, das sich nicht wirklich bewegt hat. Da müssen wir uns eingestehen, dass wir keine echten Fortschritte erzielen konnten. Wir haben sehr wenige Rhythmusmedikamente entwickelt. Es gibt die Klasse-I-Antiarrhythmika, die es schon vor 30 Jahren gab, ebenso wie Amiodaron und Betablocker. Bei den neueren Entwicklungen hat sich leider gezeigt, dass alle Substanzen auch Nebenwirkungen haben (Verschlechterung der Herzschwäche, Proarrhythmie), die den Nutzen letztlich egalisieren, sodass kein positiver Net-Benefit übrigbleibt.
Das führt zur nächsten Frage: Was waren die Enttäuschungen in diesen Jahren?
H. Pürerfellner: Zweifellos enttäuschend war die Einsicht, dass man Schlaganfälle nicht einfach mit Antikoagulation, auch nicht mit den neuen NOAKs, behandeln und verhindern kann, wenn man die Ursache nicht eindeutig kennt. Beim Vorhofflimmern funktioniert es gut, aber es gab Versuche, Patient:innen nach einem ESUS – einem „embolic stroke of unknown source“ (also ohne eindeutige Ursache) – mit Antikoagulation zu behandeln, um weitere Insulte zu verhindern, aber diese Versuche waren nicht erfolgreich. Damit haben wir eigentlich nicht gerechnet. Da waren wir zu optimistisch. Wenn Menschen älter werden und Atherosklerose entwickeln, steigt das Schlaganfallrisiko auch ohne zusätzliches Vorhofflimmern, aber das können wir mit Antikoagulation zur Verhinderung des Schalganfalles nicht beeinflussen. Auch beim Vorhofflimmern selbst hat sich gezeigt, dass die Antikoagulation nur bei klinischer Dokumentation mit einem EKG erfolgreich ist. In den letzten Monaten wurden zwei große Studien präsentiert, in die Patient:innen mit sogenanntem „device-detected“ Vorhofflimmern eingeschlossen wurden. Das bedeutet, dass das Vorhofflimmern im EKG noch nicht zu sehen ist, sondern nur von einem Device, also einem Loop-Recorder, einem Schrittmacher oder einen Defibrillator mit Dauermonitoring, detektiert wurde. Auch in dieser Population waren wir zu optimistisch und mussten feststellen, dass Antikoagulation das in diesem Fall geringere Schlaganfallrisiko nicht in dem Maß reduziert, dass es die Risiken der Therapie (Blutungen) überwiegt.
Und wie geht man mit dieser Situation um?
H. Pürerfellner: Man muss die Therapie individualisieren, wobei wir derzeit keine Grenzwerte haben, an denen wir uns orientieren können. Man kann nicht sagen, dass ab einer bestimmten Dauer von einigen Minuten an dokumentiertem Vorhofflimmern in einem implantierten Gerät eine Antikoagulation indiziert ist oder nicht. Das geben die Daten zur Evidenz leider nicht her. Es geht daher also um die individuelle Abwägung zwischen dem Schlaganfall- und dem Blutungsrisiko.
Anhand welcher Parameter entscheiden Sie?
H. Pürerfellner: Derzeit verwenden wir noch den CHA2DS2-VASc-Score, ich denke aber, dass wir den in nächster Zeit nicht mehr nutzen werden, weil er aktuell das Schlaganfallrisiko überschätzt. Mit den verbesserten therapeutischen Möglichkeiten für Herzinsuffizienz, Diabetes und Hypertonie gehen Schlaganfälle insgesamt zurück. Bereits mit den ESC-Guidelines von 2024 haben wir eine aktualisierte Variante des Scores, in der die Kategorie „weibliches Geschlecht“ („Sc“) nicht mehr als Risikofaktor gewertet wird, also einen CHA2DS2-VA-Score. Derzeit verwenden wir den Score jedenfalls noch und je höher er ist, desto höher ist das Risiko und desto eher entscheiden wir uns für die Antikoagulation.
Was waren aus Ihrer Sicht die größten Erfolge in der Rhythmologie?
H. Pürerfellner: Der große Erfolg ist, dass wir beim Vorhofflimmern mehrere Dinge gelernt haben. Das eine betrifft die Prognose – und zwar nicht den Schlaganfall, sondern die Herzinsuffizienz. Eine persistierende (nicht mehr anfallshafte) Flimmerarrhythmie führt zu einer Herzinsuffizienz. Das müssen wir verhindern. Dazu müssen wir die Grundkrankheitenbehandeln. Das heißt z.B. die Adipositas, den Diabetes, die Hypertonie und die vielleicht bereits bestehende Herzinsuffizienz. Ebenso haben wir gelernt, wie wichtig es ist, Patient:innen wieder in den Sinusrhythmus zu bringen. Und hier ist die Ablation einer medikamentösen Therapie deutlich überlegen.
Das bedeutet, Vorhofflimmern kann auch wieder aufhören, wenn man das Körpergewicht herunterbringt?
H. Pürerfellner: Ja, auch das gibt es. Es gibt nicht nur die Progression, sondern auch die Regression des Vorhofflimmerns. Über die genauen Hintergründe wissen wir allerdings noch zu wenig. Derzeit haben wir auch leider keine Scores, die uns dabei helfen würden. Die individualisierte Risikoprädiktion beherrschen wir noch viel zu wenig. Wir müssen die Möglichkeiten moderner Bildgebung besser einbeziehen, wir brauchen neue Biomarker und wir werden künstliche Intelligenz benötigen, um aus diesen Daten valide Prognosen zu machen.
Rund um die Ablation wird diskutiert, ob und wann man die Antikoagulation absetzen kann, wenn erfolgreich ablatiert wurde. Wie ist aktuell der Stand der Dinge?
H. Pürerfellner: Dazu läuft gerade die multinationale OCEAN-Studie, deren Ergebnisse wir noch 2025 erwarten. Dann werden wir genauer wissen, wer weiterhin Antikoagulation braucht und wer nicht. Wenn wir uns aber die Daten zur Ablation ansehen, die eine Reduktion der Vorhofflimmerlast um 99% zeigen, dann darf man davon ausgehen, dass es Patient:innen geben wird, bei denen man die Antikoagulation nach erfolgreicher Ablation absetzen kann. Ich vermute, das werden Patient:innen sein, deren Grunderkrankung, beispielsweise eine Hypertonie, medikamentös gut beherrschbar ist und wo keine allzugroße Multimorbidität vorherrscht.
Wie sieht es mit der Vorhersage anderer Arrhythmien aus? Also insbesondere gefährlicher ventrikulärer Arrhythmien?
H. Pürerfellner: Da konnten wir mittlerweile erreichen, dass Menschen, die nach einem Infarkt eine Herzinsuffizienz entwickeln, heute seltener an einem plötzlichen Herztod sterben, als das früher der Fall war. Das liegt an den Herzinsuffizienzmedikamenten und am besseren Management der Grunderkrankung. Damit wird aber der Nutzen eines primärprophylaktischen Defibrillators, der nur aufgrund einer eingeschränkten Pumpfunktion (EF <35%) implantiert wird, immer mehr infrage gestellt. Das ist ähnlich wie bei der Antikoagulation, wo wir heutzutage weniger Benefit, aber immer noch das idente Blutungsrisiko haben. Der Defibrillator ist ja auch nicht ohne Risiko. Es kann zu Infektionen kommen, das Gerät kann ungerechtfertigte Schocks abgeben, es kann zu mechanischen Komplikationen mit den transvenösen Sonden (Sondenbruch) kommen. Das heißt, der Netto-Nutzen des primären Implantierens eines Defibrillators nach Infarkt ist fraglich und wir benötigen Studien, die uns zeigen, ob es einen Vorteil gibt. Mit PROFID-EHRA läuft auch gerade eine derartige Studie, die in einer Population mit linksventrikulärer Auswurffraktion unter 35% nach einem Myokardinfarkt unter optimierter konservativer Therapie den Nutzen einer primärprophylaktischen ICD-Implantation über eine Nachbeobachtungszeit von 2,5 Jahren untersucht. Der primäre Endpunkt ist die Gesamtmortalität. Meine persönliche Einschätzung ist, dass manche Patient:innen ihn brauchen werden und andere nicht und dass es uns gelingen wird, die Population genauer zu definieren, bei der man einen ICD einsetzen sollte.
Wie sieht dann da aktuell die Empfehlung in den Leitlinien aus?
H. Pürerfellner: Bei der ischämischen Kardiomyopathie besteht eine Klasse-IA-Empfehlung für den primärprophylaktischen ICD bei einer EF <35%. Das heißt, wir machen eine Studie gegen eine Klasse-I-Empfehlung. Bei der nichtischämischen Kardiomyopathie ist es aktuell eine Klasse-IIa-Indikation, das heißt, man kann das machen, muss aber nicht.
Was erwarten Sie sich von der nahen Zukunft?
H. Pürerfellner: Von der Zukunft erwarte ich mir, dass wir Patienten mit Herzerkrankungen besser charakterisieren und damit individualisierter behandeln können als heute. Dabei müssen wir auch darauf achten, dass wir die Ressourcen besser nützen als bisher. Wir werden wohl auch noch mehr Primärprävention betreiben, das heißt, wir werden den Menschen besser erklären, was sie machen sollen und können, damit sie gar nicht oder viel später erkranken. Das hat viel mit Verhaltensänderung zu tun – und das ist und bleibt eine schwierige Aufgabe!
Vielen Dank für das Gespräch!
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