„Man kann nicht nicht stillen“
Autorin:
Mag. Beate Elvira Lamprecht
Studiengangsleiterin Hebammen
Department Gesundheitswissenschaften
FH Salzburg, Campus Puch/Urstein
Kommunikation rund um das Thema Stillen erscheint besonders schwierig. Worin das begründet sein könnte und was Forschung und Praxis dazu sagen, wird in diesem Beitrag einer Lehrenden und Hebamme mit Erfahrung in der Klinik und freien Praxis beleuchtet.
Man kann nicht nicht stillen
Das vom in Villach, Kärnten, 1921 geborenen Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick bekannte Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“1 könnte auch auf das Stillen umgelegt werden: „Man kann nicht nicht stillen“, denn unabhängig davon, ob eine Frau, Schwangere, Gebärende oder Wöchnerin* nach der Geburt stillen oder abstillen möchte, sind Entscheidungen zu treffen, die durch sorg-same Kommunikation in der Stillberatung begleitet werden sollten.
Wenige Themen und Bereiche der Medizin und Reproduktion scheinen so sehr von (persönlichen) Werten, kulturellem Kontext, eigener Erfahrung und Selbsterfahrung beeinflusst wie der Themenkomplex des Stillens. Während die Geburtsvorbereitung und damit die Geburt an wenige Expert:innen angebunden sind, wirken in der Stillvorbereitung und Stillberatung diverse (Berufs-)Gruppen.
Wissenschaftliche und pädagogische Grundlagen
Grundsätzlich sollten Entscheidungen zur Durchführung einer bestimmten Therapie, Maßnahme oder auch zur Nichtintervention auf folgendem Fundament basieren:2
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Werte, Präferenzen, Ziele der Klient:innen/Patient:innen
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klinische Expertise und Erfahrungswissen der Fachperson (interne Evidenz)
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aktuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse (externe Evidenz)
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institutioneller und politischer Kontext
Insgesamt ist ein stigmasensibler Umgang mit dem Thema Stillen ebenso zu fördern wie eine wertschätzende und respektvolle Haltung der Fachakteur:innen, insbesondere bei Müttern* in psychosozial und materiell belasteten Lebenslagen.3 Laut Röhm et al. 2019 wird als Stigma ein Merkmal einer Person bezeichnet, das „von einer gesellschaftlichen Norm oder Erwartung abweicht und mehrheitlich negativ konnotiert ist“.4 Teile der Bevölkerung missbilligen das Stillen – andere auch das Fläschchengeben; manche Mütter fühlen sich wegen ihres Verhaltens in der Öffentlichkeit stigmatisiert, sowohl stillend als auch nicht stillend.5
Bereits im 2008 veröffentlichten Aktionsplan der EU („Promotion of Breastfeeding in Europe: a Blueprint for Action“) wurde darauf hingewiesen: Angemessene Information, Ausbildung und Kommunikation sind unerlässlich für den Wiederaufbau einer Stillkultur in den Ländern, in denen die Ernährung mit künstlicher Säuglingsnahrung über Jahre und Generationen hinweg als Norm angesehen wurde.6
Mögliche Handlungsfelder
Die Autor:innen der 2021 veröffentlichte Sukie-Studie zum Stillverhalten und zur Kinderernährung in Österreich sprachen sich für die Entwicklung eines Kommunikationskonzepts, für klare, leicht ver-ständliche und einheitliche Botschaften aus.7 Im nachfolgenden Stakeholderdialog zur Stillförderung wurde dies folgend konkretisiert:8
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Kommunikation mit Fachpersonal und Stillenden,
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neue Kanäle nutzen, um niederschwellig viele zu erreichen,
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leicht verstehbare und einheitliche Botschaften,
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Kampagnen mit Botschafter:innen über Aufklärung hinsichtlich des gesundheitlichen Nutzens des Stillens für Frau und Kind und der frühkindlichen Ernährung,
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Informationsmaterialien für Eltern
In den „Handlungsempfehlungen für ein stillfreundliches Österreich“9 wurden auf Grundlage des internationalen Forschungsvorhabens „Becoming Breastfeeding Friendly (BBF)“ der Yale School of Public Health folgende Stärken und Schwächen der Stillförderung in Österreich festgehalten:
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Derzeit gibt es in Österreich mit der Weltstillwoche nur ein großes Stillevent und einzelne kleinere Veranstaltungen mit geringer Reichweite. Insgesamt haben diese Events als auch das Thema Stillen im Allgemeinen eine sehr geringe Medienpräsenz.
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Es gibt keine hochrangigen Prominenten, die sich für das Stillen einsetzen.
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Fehlen einer übergeordneten nationalen Kommunikationsstrategie zur Stillförderung.
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Kommunikationsaktivitäten laufen nicht koordiniert und von Kommunikationsexpert:innen geleitet ab.
Aktuelle Evidenz und Empfehlungen zur Stillförderung in der Schwangerschaft wurden von der „Academy of Breastfeeding Medicine“ überprüft, überarbeitet und als „ABM Protocol #19: Breastfeeding Promotion in the Prenatal Period“ am 26.8.2024 online veröffentlicht.10
Kommunikation
Kommunikation wird als wichtiger Grundstein jeder Beziehungsgestaltung gesehen, unterstützt Beziehungsgeschehen und macht Zwischenmenschlichkeit sichtbar, Kommunikation ist das Mittel der Ver-ständigung zwischen Personen. Tabelle 1 bietet einen Leitfaden zur Kommunikation rund um das Stillen für Fachkräfte. Laut Kruppa & Holubowsky müssen einerseits die Eltern erst lernen, die differenzierten Zeichen ihres Kindes zu deuten, undandererseits müssen Eltern und Kind eine nonverbale Kommunikation aufbauen.11
Tab. 1: Richtlinien zur Kommunikation über das Stillen. Konkrete Formulierungsvorschläge können dem Leitfaden „Kommunikation rund um das Stillen – für Fachkräfte“ entnommen werden5
Ein Reagieren auf frühe Zeichen etabliert eine differenzierte Kommunikation zwischen Mutter und Kind und erleichtert die Stillbeziehung.12 Darum sind korrekte, exakte Informationen über die frühen Stillzeichen (schnelle Augenbewegungen; Schmatzen, Lecken an den Lippen, herausgestreckte Zunge; Saugbewegungen, Lautieren; Hand am Mund, Bewegungen des Kopfes und des Körpers, Unruhe) essenziell.13 Mit dem späten Stillzeichen Weinen ist das Anlegen erschwert.12,14
Interdisziplinäre & interprofessionelle Kommunikation
Handlungsempfehlungen zur Säuglingsernährung und Ernährung der stillenden Mutter sollten auf einem Konsens aller relevanter Berufsgruppen beruhen.15 Spätestens während der Schwangerschaft sollte die Beratung auf Augenhöhe eingesetzt werden, ausreichende Personal- und Zeitressourcen sowie die Erhöhung der Bekanntheit von Anlaufstellen (etwa Besuch von Stillgruppen in der Schwangerschaft) werden für die konkrete Umsetzung genannt.7
Empfehlenswerte Quellen für alle, die mit jungen Müttern/Familien arbeiten:
Richtig Stillen von Anfang an – VSLÖ: https://www.stillen.at/stillberatung/richtig-stillen-von-anfang-an/ (Videos)
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Ernährung (richtigessenvonanfangan.at): https://www.richtigessenvonanfangan.at/downloads/videos/ernaehrung
-
Handout „Ohne Worte Stillen“: (elacta.eu): https://www.elacta.eu/wp-content/uploads/2017/04/Handout-2015-2-DE-ohne-Worte-Stillen.pdf
*In diesem Artikel sind aus Gründen der Übersichtlichkeit bei den Begriffen mit grammatikalisch weiblichem Geschlecht Trans-Personen oder nichtbinäre Personen mitgemeint.
Literatur:
1 Köhler-Ludescher A: Paul Watzlawick – die Biografie. Die Entdeckung des gegenwärtigen Augenblicks. Bern: Huber (Psychologie Sachbuch) 2014. Online verfügbar unter http://www.perlentaucher.de/buch/andrea-koehler-ludescher/paul-watzlawick.html (zuletzt aufgerufen am 22.09.2024) 2 Kayer B: Wissenschaftliche und pädagogische Grundlagen – evidenzbasiertes Anleiten. In: Agel L (Hg.): Praxisanleitung im Hebammenstudium. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag 2024; 23-8 3 Reiss K et al.: Stillförderung bei Müttern in belasteten Lebenslagen – Ergebnisse einer qualitativen Zielgruppenanalyse. Praev Gesundheitsf 2023; 18(3): 423-30 4 Röhm A et al.: Stigmatisierende und destigmatisierende Prozesse in der Gesundheitskommunikation. In: Rossmann C, Hastall MR (Hg.): Handbuch der Gesundheitskommunikation. Wiesbaden: Springer 2019; 615-25 5 Flothkötter M et al.: Leitfaden zur Kommunikation rund um das Stillen – für Fachkräfte. Hg. v. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE). Bonn (0226 2337) 2021. Online verfügbar unter https://www.ble-medienservice.de/0226-1- leitfaden-kommunikation-rund-um-das-stillen.html (zuletzt aufgerufen am 22.09. 2024) 6 Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) (Hg.): Empfehlungen der Nationalen Ernährungskommission. Task Force: Kleinkinder, Stillende & Schwangere. Österreichische Stillempfehlungen. Wien 2014. Zuletzt aufgerufen am 09.09.2014 7 Bürger B et al.: Sukie – Studie zum Stillverhalten und zur Kinderernährung in Österreich. Hg. v. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK). Wien 2021 8 Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH et al.: Sukie Säuglings und Kinderernährung. Nachlese Stakeholderdialog zur Stillförderung. 2021. Online verfügbar unter Nachlese_Stakeholderdialog_Barrierefrei_2021-09-08_final%20(3).pdf (zuletzt aufgerufen am 21.04.2024)9 Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) (Hg.): Handlungsempfehlungen für ein Stillfreundliches Österreich, Ergebnisse aus dem „Becoming Breastfeeding Friendly (BBF)“-Prozess in Österreich. BMSGPK 202410 Jack A et al.: Academy of Breastfeeding Medicine Clinical Protocol #19: Breastfeeding promotion in the prenatal period (revised 2024). https://doi.org/10.1089/bfm.2024.0203 11 Buschmann H: Lernbeziehung gestalten. In: Agel L (Hg.): Praxisanleitung im Hebammenstudium. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag 2024; 57-80 12 Europäisches Institut für Stillen und Laktation (Hg.): Nindl G et al.: Skriptum Basisschulung. Stillen und Stillberatung. Kramsach 2023/24; 26 13 Walker M: Breastfeeding management for the clinician – using the evidence. Sudbury: Jones and Bartlett 2023; 327 14 Lactation Education Accreditation and Approval Review Committee (LEAARC) et al.: Core curriculum for interdisciplinary lactation care. Burlington: Jones and Bartlett 2024; 268 15 Reiss K et al.: Akzeptanz von Handlungsempfehlungen des Netzwerks „Gesund ins Leben – Netzwerk Junge Familie“ zur Säuglingsernährung und Ernährung der stillenden Mutter. Gesundheitswesen 2018; 80(5): 482-8
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