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Diversität in Forschung und Praxis

LGBTQIA+: Welche Fragen ergeben sich?

Es gibt kaum verbindliche Regeln und viele widersprüchliche Meinungen zu den „neuen“ sexuellen Identitäten. Unser Bemühen muss es sein, eine respektvolle, vertrauensbildende Gesprächsbasis mit allen unseren Patient:innen zu schaffen.

LGBTQIA+,Queer-Theorie, Diversity sind Begriffe, die seit einigen Jahren in den Medien diskutiert werden.1 „LGBTQIA+“ ist die Abkürzung der englischen Wörter lesbian, gay, bisexual, transsexual/transgender, queer, intersexual und asexual – also eine Bezeichnung für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle/Transgender-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen.

Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Praxis? Welche Herausforderungen stellen sich in diesem Zusammenhang für uns? Da es kaum verbindliche Regeln gibt, außer für das 3. Geschlecht, bleibt es uns überlassen, mit dieser Frage umzugehen.

Evidenzbasierte medizinische Angebote

Es beginnt mit der seit Jahrzehnten geltenden Forderung nach evidenzbasierten medizinischen Angeboten. Das ist von uns allen akzeptiert, aber ist es bei allen Diversity-Gruppen auch möglich? Die Hauptthemen der Diversity in der Medizin sind Geschlecht, Alter, sexuelle und religiöse Orientierung, Ethnie, Flucht, Migration, chronische Erkrankungen und Behinderung. Doch es gibt natürlich auch Überschneidungen, Intersektionalität, was alles noch mehr erschwert.

Evidenzbasiert heißt vereinfacht, alle unsere Empfehlungen müssen auf wissenschaftlichen Studien beruhen. Der Goldstandard dafür sind prospektive, doppelblinde Multicenter-Studien mit entsprechender Fallzahl und Statistik. In den Krankengeschichten sind nur Alter und Geschlecht der Patient:innen vermerkt, also sind Trendanalysen nicht möglich, und bei prospektiven Studien sind Befragungen zu tabuisierten Themen, wie z.B. sexuelle Orientierung, oft schwierig. Dazu kommt, dass Forschung zu Diversity-Gruppen – gerade bei sexueller Orientierung – oft kleine Fallzahlen einschließt. Die Medizinforschung beruht hauptsächlich auf quantitativer Forschung mit hohen Fallzahlen, dafür gibt es eher Drittmittel und Publikationsmöglichkeiten. Dieser Forschungsansatz ist bei Kleingruppen schwierig. Daraus folgt, dass es für viele Diversity-Gruppen kaum Studien gibt und damit auch keine evidenzbasierten Angebote. Dazu kommt noch, dass zwar in den letzten Jahren mit zunehmendem Erfolg gegenderte Gesundheitsdaten gefordert wurden; allerdings geht es hier ausschließlich um Frauendaten – alle Landesstatistiken, Statistik Austria, Krankenkassen- und Krankenhausdaten weisen ausschließlich Frauen und Männer aus. Das gilt auch für EU- und WHO-Daten.

Um für alle Diversity-Gruppen evidenzbasierte medizinische Angebote vorlegen zu können, muss das gesamte Wissenschaftssystem neu aufgestellt werden, die fehlenden Gesundheitsdaten müssen ergänzt werden, mehr qualitative Studien gefördert werden – das braucht Zeit.

Gegenderte Sprache

Sprache ist ein wichtiges Tool in der Medizin und bestimmt wesentlich den Umgang mit unseren Patient:innen: Was ist hier zu tun?

Das Problem beginnt schon bei uns. Es geht nicht um unsere persönlichen Vorlieben, sondern um das Bemühen, mit jeder Person in unserer Praxis eine vertrauensvolle und respektvolle Gesprächsbasis zu schaffen. Aber: Wir haben uns seit Jahren und Jahrzehnten bestimmte Formulierungen angewöhnt. Und selbst wenn wir versuchen, nun eine gegenderte Sprache zu verwenden, ist das für uns schwierig und sicher nicht lückenlos durchzuhalten. Auch das uns umgebende Gesundheitssystem – von Krankenanstalten, Arztbriefen, Krankenkassen, e-Cards bis zur Ärztekammer – verwendet meist immer noch keine gegenderte Sprache.

Jahrelang haben wir versucht, das Binnen-I zu implementieren –mit viel Widerspruch und mäßigem Erfolg. Nun ist es abzulehnen, da es nur Frauen und Männer meint, also binär zu verstehen ist, das gilt auch für Formulierungen wie „Patientinnen und Patienten“. Jetzt gelten Unterstrich, Stern oder Doppelpunkt als korrekt, weil nicht binär, sondern alle umfassend.

Was ist zu tun?

Bei Sprache bietet sich immer der Duden1 an, wo vereinfacht darauf hingewiesen wird, dass Deutsch bekanntlich eine lebende Sprache ist und der Duden sich derzeit nicht festlegen oder voraussagen will, wie diese Diskussion endet. Für die Wissenschaft gibt es Checklisten und Guidelines,2 zusätzlich haben einige Organisationen und Publikationsorgane Spezialvorschriften erlassen.3

Wie halte ich es in meiner Praxis mit der gegenderten Sprache?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Sprache und auch die Anrede ein wichtiges Tool sind, um mit jeder einzelnen Person in unserer Praxis eine respektvolle, vertrauensvolle Gesprächsbasis zu schaffen, gibt es 3 Möglichkeiten:

  1. Alle werden mit Vor-und Schreibnamen angesprochen, es gibt gegenderte Sprache für alle (ist im Deutschen gewöhnungsbedürftig).

  2. Alle Personen werden zuerst gefragt, wie sie angesprochen werden wollen.

  3. Sie erkennen sofort, wer wie angesprochen werden will und handeln danach.

Die Punkte 1 und 2 werden je nach Ihrem Einzugsgebiet unterschiedlich viel Ärger bis Aggression verursachen. Allein schon die Frage, wie sie jetzt angesprochen werden wollen, ist für viele beleidigend bis unerträglich.

Von 3 kann dringend abgeraten werden, außer bei den Patient:innen, bei denen Sie über die sexuelle Orientierung informiert sind. Es muss uns klar sein, dass wir nicht bei jeder Person zweifelsfrei auf den ersten Blick die sexuelle Orientierung erkennen. Dazu kommt, dass es ein absolutes Tabu ist, Menschen gegen ihren Willen zu outen.

Aus unserer Sicht bleibt nur die Variante, alle so anzusprechen, wie es aus den Unterlagen hervorgeht, und bei Widerspruch sofort zu reagieren, sich zu entschuldigen und gleich zu fragen: „Wie darf ich Sie ansprechen?“

Was die schriftlichen Berichte betrifft, ist es am einfachsten, eine Vorlage zu erstellen, die Personen mit Vor- und Schreibnamen zu nennen und nicht über diese, sondern über die Befunde zu berichten! Außerdem gibt es viele Begriffe, die für alle passen, wie Person, Mensch, Personal, Pflege etc. – vielleicht ungewohnt, aber unproblematisch.

Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass wahrscheinlich ein Großteil unserer Patient:innen keine gegenderte Sprache will. Die Zahl hängt sicher vom Einzugsgebiet ab, aber alle publizierten Umfragen bestätigen dies. Derzeit ist es zusätzlich ein Politikum, das Thema wird in parteipolitischen Diskussionen verwendet und es gibt sogar Verbote wie in Niederösterreich und Bayern!

Regelungen zum 3. Geschlecht

Gesetzliche verbindliche Regelungen gibt es für das 3. Geschlecht. Diesbezügliche Regelungen beruhen auf österreichischen Höchstgerichtsurteilen und einem EUGH-Urteil aus dem Jahr 2019. Hier ist vor allem das Personenrecht betroffen, v.a. die Bezirkshauptmannschaften bzgl. der Personenstandsregistrierung als divers. In der Allgemeinpraxis kann die Frage nach entsprechenden Gutachten auftauchen, die im Gesetz verlangt werden, ohne nähere Definition, wer diese erstellen kann. Anfangs wurden häufig gynäkologische, endokrinologische und urologische Gutachten verlangt, was so nicht im Gesetz steht. Zwischenzeitlich werden wohl auch allgemeinmedizinische Gutachten von den Bezirkshauptmannschaften akzeptiert. Derzeit betrifft die österreichische Gesetzgebung nur Intersex-Personen, hier ist eine Ausweitung aber zu erwarten.

Zusammenfassung

Zusammenfassend stellen uns in der Praxis LGBTQIA+, Diversity, 3. Geschlecht vor die Frage: Was ist zu tun? Für uns liegt die Betonung auf dem respektvollen Umgang mit jeder einzelnen Person, unabhängig von unserer Meinung zu diesem Themenkomplex. Dazu kommt, dass viele dieser Personen oft zeitlebens diskriminiert wurden, deshalb empfindlicher sein können und gerade von der Allgemeinmedizin Verständnis und volles Bemühen sowie Akzeptanz erwarten können.

Es darf bei allem Bemühen um Political Correctness nicht vergessen werden, dass es nie möglich sein wird, allen Patient:innen gerecht zu werden und wir uns auch nur darum bemühen können.

  1. Diewald G, Steinhauer A: Duden Handbuch geschlechtergerechte Sprache. Wie Sie angemessen und verständlich gendern. 2. Auflage. Berlin: Dudenverlag 2022

  2. Van Epps H et al.: Sex and gender equity in research guidelines: implementation an checklist development. European Science Editing 2022; 48: e86910

  3. https://media.springernature.com/full/springer-cms/rest/v1/content/19129892/data/v3 ; zuletzt aufgerufen am 24. 6. 2024

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